Picturebook - Art (http://www.picturebook-art.de/index.php)
- Die Schreiberlinge (http://www.picturebook-art.de/board.php?boardid=6)
-- Selbst Ersonnenes (http://www.picturebook-art.de/board.php?boardid=8)
--- Der "Star" (http://www.picturebook-art.de/thread.php?threadid=255)


Geschrieben von Scott am 10.04.2013 um 09:46:

  Der "Star"

Was hatte sie nicht schon alles über diesen Menschen und seine Konzerte gehört oder gelesen? Wenn man diesen Ausführungen Glauben schenken durfte, dann erwartete das Publikum eine kaum dreissigminütige Show, in denen ein gefühlsloser Sänger mit gelangweilter Stimme seine unbekanntesten Lieder singt, ohne das Publikum eines freundlichen Blickes oder gar Wortes zu würdigen.
Doch sie erinnerte sich auch an Berichte, in denen er nicht nur als guter Komponist, Texter/Arrangeur sondern auch als charismatischer Sänger und hervorragender Tänzer bezeichnet wurde, der mit den eigenen Songs und Texten auf seine sehr eigene Weise ausdrückte, was er dachte und fühlte. Er traute sich immer einen Schritt mehr als andere über Grenzen hinaus und hielt damit sein Publikum in den Händen.

Nun stand sie hier im Innenraum, wenige Meter vor der Bühne entfernt, im tiefsten Gedränge der ausverkauften Arena und ertrug die verschiedenen Ausdünstungen des Publikums. All das für einen realistischen Bericht auf Seite 3 und einen Festvertrag als Journalistin. Sie war nervös, denn von diesem Bericht hing ihre berufliche Zukunft ab.
Interviews lehnte der Sänger kategorisch ab und die unfreundliche Ablehnung ihrer Anfrage durch das Management hatte sie nicht überrascht. Schliesslich galt er in ihren Kreisen als abweisend, rücksichtslos und brutal ehrlich. Ein Mann, der selbst vor verbaler Exekution nicht zurück schreckte.
Und dennoch hoffte sie auf ein Wunder. Ein Wunder in Form einer aussergewöhnlichen Darbietung, eines unvergesslichen Erlebnisses oder – noch besser – einigen persönlichen Worten.

Das Licht in der Arena erlosch, und ein stimmungsvolles Intro erklang. Die Unruhe im Saal nahm ab, wich der Spannung. Ein Scheinwerfer fokussierte mit seinem Strahl die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Bühne und blieb an einer einsamen Gestalt hängen.
In zerrissenen Jeans, verrutschtem Modeschlips und Tankstellenwärterhemd grüsste sie kurz in die Menge um sich dann mit gesenktem Kopf hinter den Flügel zu klemmen.
Der Scheinwerfer verschwand und die Bühne wurde in leichtes Dämmerlicht getaucht.

Die Journalistin spürte, wie die Spannung abfiel und Enttäuschung wich. Das sollte DER Star sein?

Er begann zu spielen und bei den ersten Tönen erhob sich ein Teppich aus Händen im Zuschauerraum. Sein Blick glitt über die Menge, erfasste sie und hielt sie gefangen. Die Melodie strömte aus ihm heraus und durch sie hindurch, war Ausdruck leidenschaftlicher Gefühle, und drohte sie zu ersticken.
Als seine Stimme erklang, ging sie der Menge unter die Haut und eroberte ihre Seelen. Sie brachte sie zum Verstummen, sie lockte, verführte. Die Worte raubten dem lauschenden Publikum den Atem, schlugen es in ihren Bann.
Die Journalistin blieb an seinen Augen hängen, die sie mit unsagbarem Verlangen und quälender Sehnsucht anblickten, während seine Stimme heiss und verlockend über ihre Haut strich.
Die Worte erzählten von der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die jemanden wie eine Figur und nicht wie einen Menschen behandelte. Eine Gesellschaft, die glaubte, sie könne alles zu diesem Menschen sagen, weil er keine richtige Person sei.
Die Worte erzählten, wie die Gesellschaft vergass, dass die Figur auf der Bühne ein Mensch war und Gefühle hatte, die verletzt werden konnten. Dass die Gesellschaft unhöflich war oder die Figur behandelte, wie ein Pappgestell auf einem Jahrmarkt. Sie handelten davon, dass die Figur vom Menschen zur Ware wurde und sich nicht mehr als Mensch fühlte, nur weil sie im Rampenlicht stand.
Die nächste Stunde gehörte der Liebe, dem Leben und dem Tod. Seine dunkle, sanfte Stimme war durchflutet von unzähligen, undurchdringlichen Reflexionen und verkörperte, zusammen mit dem Ausdruck in seinen Augen jede einzelne Note, bis zum Moment des Schweigens am Ende eines jeden Songs.
Alles an ihm war lebendig – ein unruhiger, zitternder Puls zog sich durch das Programm, als ob man die ewige Magie des Lebens fortlaufend feierte.

Auf Seite 3 stand am nächsten Morgen eine Empfehlung: Lassen Sie sich entführen von einer Stimme, die Herzen bezaubert und Seelen berührt. Wer ihn auf der Bühne erlebt hat, wird das nie vergessen.


Forensoftware: Burning Board 2.3.6, entwickelt von WoltLab GmbH