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Geschrieben von Zaida am 01.07.2011 um 20:59:

  Die ersten Knospen

Clarissa stand am offenen Fenster und starrte in den tristen Morgen. Die kühle Luft ließ sie sich fröstelnd die Arme reiben. Hier und da piepte ein Vogel. Verdammter Winter, dachte sie, wann willst du endlich mal das Feld räumen. Ich kann den Scheißschnee nicht mehr sehen und die Wolken und die Kälte! Einen Moment noch starrte sie gedankenverloren hinaus, bis sie laut seufzte und sich einen Ruck gab. "Nutzt ja nichts", murmelte sie zu sich selbst, stellte die Kaffeetasse in die Spüle, griff nach Handtasche und Schlüssel und verließ die Wohnung. Für die ersten Frühlingsboten hatte sie keinen Blick.

Quälend langsam, schob sich der Verkehr voran. Ganz im Gegensatz zu den Zeigern ihrer Uhr. Warum um alles in der Welt musste ausgerechnet heute jeder Bus, jedes Taxi, jedes Moped und jedes Fahrrad dieser Stadt den gleichen Weg nehmen, wie sie? Hundert Meter weiter wusste sie es: Baustelle – Umleitung. Mitten in der Nacht aus dem Boden geschossen.
Warum musste die Stadt unbedingt heute und zu Zeiten dichtesten Berufsverkehrs die Straßen reparieren? Sie und alle anderen fuhren schon seit Monaten Slalom um die verdammten Schlaglöcher. Als hätte DAS nicht auch noch Zeit bis morgen gehabt.
Und warum musste ausgerechnet sie immer irgendeinen Penner vor sich haben, der vergessen hat wach zu werden oder grün von rot nicht unterscheiden konnte? Jetzt stand sie also an einer grünen Ampel.

Clarissa sah wieder auf die Uhr und stöhnte auf. Gerade waren es doch erst sieben Uhr vierzig! Wie konnte der Zeiger so schnell auf die acht geraten sein? Ihre Hupe brüllte aggressiv los und zeigte nur allzu deutlich ihre Stimmung. "Tüttüttüt tüüüüüüüüüüüüt." Nun fahr schon endlich, du Idiot!! Ihr Vordermann schreckte auf, gab Gas und schaffte es gerade noch so über die schon wieder dunkelorange Ampel. Ganz toll !! Wenigstens bin ich jetzt vorne, dachte Clarissa und überlegte, wie sie diesem Baustellen-Umleit-Chaos entfliehen könnte. Sie setzte den Blinker nach rechts und lächelte triumphierend. Vielleicht schaffte sie es ja doch noch bis acht Uhr dreißig zu ihrem Termin.
Kurz um, sie schaffte es nicht. Eine weitere Baustelle zwang sie zurück in den Strom der Verzweifelten, den sie gerade erst verlassen hatte. Kurz vor neun parkte sie ihren Wagen vor der Praxis.

"Clarissa Schmidt-Kortes. Ich habe…"
"Ah Frau Kortes", antwortete die Arztassistentin. Sie sind zu spät dran."
"SCHMIDT-Kortes", korrigierte Clarissa. Der Versuch, freundlich zu lächeln misslang etwas. "Ich weiß, dass ich zu spät bin. Aber in der Stadt war die Hölle los. Überall Baustellen und nur bek… ehm Umleitungen … wirklich überall." Sie wusste, dass das die Frau an der Anmeldung reichlich wenig interessierte. Sie war nur daran interessiert, dass ihre Terminplanung funktionierte. Unvorhergesehenes hatte da keinen Platz.

"Ihre Karte?", forderte sie denn auch völlig unbeeindruckt. "Danke. Die zehn Euro?" Der Blick der Dame gleichbleibend freundlich, zeugte ihre Stimme doch von leichter Ungeduld und Clarissa blickte sie aus schmalen Augen an. Du solltest dich ins Auto setzen und versuchen in die Stadt zu fahren!, dachte sie wenig freundlich, aber sie beherrschte sich. "Die hab ich schon bei Dr. Wertgen bezahlt."
"Dann brauche ich die Überweisung", erwiderte die Dame und Clarissa schlug sich gedanklich an den Kopf. Die Überweisung. Mist. An die hatte sie natürlich nicht gedacht. Nicht nur nicht dran gedacht sie einzustecken, sondern erst gar nicht dran gedacht, sich überhaupt eine ausstellen zu lassen. Schussel! Die zehn Euro jedenfalls war sie fürs erste los.
"Vielen Dank Frau Kortes", erklang die Stimme der Arztassistentin. "Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Es kann jetzt natürlich etwas dauern."

Natürlich, dachte Clarissa leicht gereizt, ersparte sich aber die erneute Korrektur ihres Namens. Lediglich fragte sie, wie lange denn 'etwas' wäre und erntete einen überaus freundlichen Blick. "Mit einer dreiviertel Stunde bis Stunde müssen Sie schon rechnen."
Aha. Das war eine Antwort. Eine, worauf sie nicht sonderlich erpicht war, aber immerhin. Eine Stunde war überschaubar.

Im Wartezimmer nahm sie auf dem einzigen freien Stuhl Platz. Neben ihr saß eine alte, eingefallene Frau mit ausdauerndem, bellendem Husten. Clarissa drehte sich ein wenig nach links. Die Aussicht gefiel ihr schon besser. Ein Mann mittleren Alters, ein nettes Lächeln, braune Augen, dunkles etwas wirres Haar. Recht symphytisch. Die Beine von sich gestreckt, sah er aus, als würde er schon länger hier warten. "Hallo, ich bin Ben Jaspers", stellte er sich vor. "Clarissa" erwiderte sie perplex und fünf Minuten später steckten sie in einem netten Gespräch. Nach einer halben Stunde war ihr Ärger gänzlich verflogen und sie bedauerte schon jetzt aufrichtig den Moment, da einer von ihnen aufgerufen würde und sie sich vermutlich nie wieder sähen.
Doch noch bevor es dazu kommen konnte, lud der Mann sie zu einem Kaffee ein, falls sie nach dem Arztbesuch noch Zeit erübrigen könnte. Clarissa nickte lächelnd. Sie konnte.

"Frau Schmidt-Kortes bitte in Zimmer 3", tönte es keine zwei Minuten später aus dem Lautsprecher und in dem Augenblick hätte Clarissa der Frau vorne an der Anmeldung die Gurgel umdrehen können.
"Sie sind verheiratet?", kam es auch umgehend von Ben. Bedauern schwang in seiner Stimme
"Ich ehm, ja… also nein… ", stotterte Clarissa hilflos und wurde rot.
Bens Grinsen ließ sie noch einen Ticken mehr Farbe annehmen. "Bleibt es bei dem Kaffee?"
Clarissa nickte und verschwand in Zimmer drei.

Als sie sich zwei Stunden später auf den Heimweg machte, spielte ein glückliches Lächeln um ihre Lippen. Sie steckte wieder im Stau, doch es machte ihr nichts aus, auch wenn sie ihren nächsten Termin schon wieder verpassen würde. Sie nahm ihr Handy zur Hand und sagte beim Friseur ab.
Stattdessen fuhr sie zum Friedwald. Die dritte der großen Kastanien war ihr Ziel. Seit fünf Jahren kam sie regelmäßig hierher. Hier unter dem großen Baum lag irgendwo die Urne von Markus.
"Ich bin gesund", flüsterte sie. "Hörst du? Ich habs geschafft. Sie haben bei der letzten Untersuchung nichts mehr gefunden. Oh Gott, ich bin so glücklich. Und ich habe heute einen Mann kennengelernt… Ben…"
Clarissa blieb noch eine Weile unter der großen Kastanie sitzen, blickte zu ihren Ästen empor und lächelte. Der Baum trug seine ersten Knospen.


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